Nachlassabwicklung: Ein Gespräch über die Nagelprobe für Banken
30. Oktober 2025
Interview
Wenn ein Mensch verstirbt, beginnt für die Angehörigen eine Zeit der Trauer und der organisatorischen Herausforderungen. In dieser emotionalen Ausnahmesituation wird die Abwicklung des Nachlasses zur Nagelprobe für die Beziehung zwischen Erben und Banken. Wir sprachen mit Melanie Loewe, Testamentsvollstreckerin und Nachlassspezialistin, über die Tücken, Fallstricke und strategischen Chancen, die dieser Prozess für Finanzinstitute birgt. Sie erlebt täglich, wie aus einem Trauerfall ein zermürbendes Spiel mit Formularen und Zuständigkeiten werden kann.
Die neue Komplexität: „Wenn Banken Erben im Regen stehen lassen“
Die Zeiten einfacher Nachlässe sind vorbei. „Früher hatten wir es meist mit einem Sparbuch, einem Girokonto und vielleicht einer Immobilie zu tun“, erklärt Loewe. Heute konfrontiert die digitale Welt Erben mit völlig neuen Herausforderungen. Kryptowährungen, internationale Depots und komplexe Unternehmensbeteiligungen machen den Nachlass unübersichtlich. Diese Entwicklung führt zu dem, was Loewe als „stilles Erbendesaster“ bezeichnet: Erben wissen oft nicht, welche Vermögenswerte überhaupt existieren.
Diese wachsende Komplexität stellt auch die Banken vor Probleme. Standardisierte Prozesse stoßen schnell an ihre Grenzen. „Es ist wenig Raum für eine Einzelfalllösung, das merke ich immer dann, wenn die Legitimation nicht standardisiert ist“, beschreibt Loewe die Realität vieler Erben. Für Banken bedeutet dies, dass starre Abläufe nicht mehr ausreichen, um den individuellen Fällen gerecht zu werden und Vertrauen zu schaffen.
Ineffizienz und Empathielosigkeit: Wie Banken Kunden verprellen
Der Umgang mit den Hinterbliebenen ist eine entscheidende Weichenstellung für die Zukunft. „Auch mit einem Verstorbenen kann eine Bank Geld verdienen – über die Erben als potenzielle neue Kunden“, betont Melanie Loewe. Doch viele Institute verschenken diese Chance durch ineffiziente Prozesse und unempathische Kommunikation. Statt neue Kunden zu gewinnen, treiben sie diese durch frustrierende Erfahrungen zur Konkurrenz.
Loewe kennt aus ihrer täglichen Praxis die typischen Probleme nur zu gut: Endlose Schleifen durch immer neue Dokumentenanforderungen, wechselnde Ansprechpartner und ausgelagerte Callcenter ohne Fachkenntnisse. Besonders kritisch sind die langen Wartezeiten, die nicht nur ärgerlich, sondern für die Erben oft auch finanziell nachteilig sind und zu einem erheblichen Vertrauensverlust führen. „Ich warte teilweise sieben Monate auf eine Umsatzanzeige – obwohl ich vollständig legitimiert bin“, kritisiert Loewe. Dabei fällt ein deutlicher Unterschied zwischen großen und kleineren Instituten auf. Während Regionalbanken durch feste, erreichbare Ansprechpartner überzeugen, die die Prozesse kennen und auf Augenhöhe handeln, scheitern große Institute häufig an ihrer starken Standardisierung und der damit einhergehenden Distanz. Loewe lobt die persönliche Nähe und Kompetenz der Regionalbanken, während sie bei Großbanken abschreckende Beispiele erlebt hat: „Da wurde den Erben geschrieben: Innerhalb eines Jahres müssen die Konten aufgelöst werden – sonst werden sie geschlossen.“ Solch ein Vorgehen zerstört jede Grundlage für eine künftige Geschäftsbeziehung. Erfolgreiche Modelle sollten daher digitale Effizienz mit persönlicher Betreuung verbinden und den menschlichen Faktor nicht aus den Augen verlieren.
Der Faktor Mensch: Der entscheidende Unterschied
Inmitten dieser oft starren Strukturen sind es engagierte Mitarbeitende, die den Unterschied machen. Loewe unterscheidet klar zwischen Sachbearbeitern, die mechanisch Formulare abarbeiten, und jenen, die echte Lösungsorientierung zeigen. „Diese Menschen kennen ihren Spielraum – und sie nutzen ihn“, erklärt sie. Ein kompetenter Bankmitarbeiter, der aktiv zuhört und proaktiv nach Lösungen sucht, kann eine negative Erfahrung in eine positive verwandeln.
Die entscheidenden Qualifikationen sind dabei nicht nur fachlicher Natur. Neben Kenntnissen im Erbrecht ist vor allem empathische Kommunikation gefragt. Erben erwarten keine juristische Beratung, aber sie sehnen sich nach Respekt, Transparenz und dem Gefühl, ernst genommen zu werden. Hier sieht Loewe oft regionale Institute im Vorteil. „Bei den Sparkassen habe ich feste Ansprechpartner, die sind erreichbar, kennen die Abläufe und handeln auf Augenhöhe“, lobt sie den persönlichen Ansatz, der bei großen, zentralisierten Banken häufig auf der Strecke bleibt. Loewe betont hierbei, dass „Erfolgsmodelle digitale Effizienz mit persönlicher Betreuung kombinieren – ohne dabei den menschlichen Faktor zu vernachlässigen.“ Dies unterstreicht die Notwendigkeit für regionale Banken, digitale Lösungen zu implementieren, während größere Institute sicherstellen müssen, den persönlichen Kontakt nicht zu verlieren.
Digitalisierung mit Funktion statt nur Fassade
Die Digitalisierung bietet große Potenziale, um Nachlassprozesse effizienter zu gestalten. Doch die Expertin warnt vor oberflächlichen Lösungen. „Digitale Prozesse dürfen nicht nur hübsch aussehen – sie müssen auch funktionieren“, fordert Loewe. Eine schöne Benutzeroberfläche allein schafft keinen Mehrwert. Gefragt sind funktionale Tools, die für Transparenz sorgen und den Erben klare, nachvollziehbare Prozesse bieten.
Digitale Plattformen können den Informationsaustausch beschleunigen und den Bearbeitungsstand für alle Beteiligten sichtbar machen. Gleichzeitig kann Automatisierung Mitarbeitenden Freiräume schaffen, damit sie sich auf die persönliche Betreuung und komplexe Sachverhalte konzentrieren können. Die Digitalisierung sollte die menschliche Interaktion also nicht ersetzen, sondern gezielt unterstützen.
Fazit: Empathie als strategischer Wettbewerbsvorteil
Aus dem Gespräch mit Melanie Loewe wird deutlich: Die Nachlassabwicklung ist weit mehr als ein administrativer Vorgang. Sie ist eine strategische Chance. Banken, die in dieser sensiblen Lebensphase durch Kompetenz, Effizienz und vor allem Empathie überzeugen, gewinnen das Vertrauen der Erben – und damit potenzielle Kunden für die Zukunft.
Empathie ist hierbei kein „Nice-to-have“, sondern ein entscheidender Erfolgsfaktor. Eine Bank, die diesen Ansatz verfolgt, verwandelt eine Pflichtaufgabe in einen kraftvollen Vertrauensbeweis. Sie positioniert sich als verlässlicher Partner und legt den Grundstein für die Kundenbindung der nächsten Generation.


